von Nadine Kaminski. Fotos: Matthias Oertel
Nach drei Wochen Urlaub könnte ich nicht erholter sein. Hier möchte ich für immer wohnen!“ Wenn ich von einem Tagesausflug so beseelt bin, dass Mitreisende schon fast genervt die Augen verdrehen, hatte besagter Tag meist eine wichtige Zutat: das Meer. Der Anblick eines schnurgeraden Horizonts, der zwei blaue oder graue Flächen teilt, funktioniert als Mute-Schalter für das weiße Rauschen im Kopf. Großraumbüro? Was war das nochmal? Man kehrt für den Moment einfach allem den Rücken, hat nur ein großes Nichts vor Augen. Wie eine leere To-Do-Liste.

Heute ist es mal wieder an der Zeit für so ein bisschen heilsame Leere – und mindestens ein Fischbrötchen! Wir steigen ins Auto und fahren los Richtung Travemünde. Dort war ich noch nie, denn ohne triftigen Grund hatte ich bisher beim Klang des Ortsnamens immer komische Bilder im Kopf, von gleichförmigen Backsteinbunkern, die sich um einen riesigen grauen Wolkenkratzer drängen. Zumindest den Wolkenkratzer gibt es tatsächlich, das weiß ich. Das in den frühen 70ern hochgezogene Maritim Hotel kann man nämlich sogar vom Nachbarort (der Ferienhochburg Timmendorfer Strand) aus sehen. „Guck, dahinten ist Travemünde“, sagen Leute, die sich auskennen, dann. Ich nicke anerkennend – und fahre beim nächsten Mal eben doch wieder nach Timmendorfer Strand, wenn ich von Hamburg aus mal schnell die Ostsee besuchen will. Travemünde sei auch wirklich recht angestaubt, haben sogar meine Eltern mal erzählt. Aber wer weiß, wann die zum letzten Mal da waren…

Heute möchten wir unseren Vorurteilen jedenfalls endlich auf den Grund gehen. Und vielleicht schaffen wir es ja sogar aufs Dach des Maritim, um hinüber nach Timmendorf zu gucken! Vom meditativen Blick auf den schnurgeraden Horizont mal ganz zu schweigen. Als wir durch grüne Wiesen von der Autobahn zum Travemünder Stadtkern geleitet werden, weht mir ein vertrauter Geruch in die Nase: Hafen! Bootsmotorendiesel, Fisch, Salzwasser. Die heiß ersehnte Matjes-Semmel wird ein super Frühstück abgeben, so der spontane Beschluss im Wagen. Wir folgen also der Beschilderung in Richtung Fähranleger. Dass es überhaupt Fährbetrieb gibt, ist schonmal ein gutes Zeichen. Travemünde, Tor zur Welt! Am Anleger steht ein Parkscheinautomat, der außer einer niedlichen „Brötchentaste“ (für Kurzparker) auch überraschend niedrige Stundensätze vorweist. Dabei ist man hier, merken wir nach einem Blick aufs Handy, ja schon mittendrin! Linkerhand beginnt die Strandpromenade, rechts der Fischereihafen, in dem farbenfrohe Kutter liegen – und direkt hinter uns liegt die Altstadt. Ihre Giebel machen auf den ersten Blick bewusst, dass man hier tatsächlich in einem Stadtteil der hübschen Hansestadt Lübeck steht. Von gleichförmigen Backsteinbunkern keine Spur.

Doch eins nach dem Anderen: Zuerst Frühstück finden und dem Meer hallo sagen! Beides erledigen wir im nahen „Fischtempel“, einer weiß gestrichenen Holzbude, aus der es nach starkem Kaffee riecht. Vor der Tür stehen Tische und Stühle in der prallen Sonne, Möwen tapern auf der Jagd nach Krümeln am Steg entlang. Die Geräuschkulisse: Schaukelnde Jollen, deren Masten sachte aneinanderstoßen. Fast mediterran, die Farben und Sounds! Und da ist natürlich das Meer, hier allerdings erst einmal nicht grau und weit, sondern als spiegelglatter, sonnenstrahlgoldener Pril zu bewundern. Denn wir stehen noch nicht an der offenen See, sondern blicken auf die Fahrrinne zwischen Travemünde und der vorgelagerten Halbinsel Priwall. Gestärkt mit Kaffee, Fischbrötchen und einer Fanta (heute ist eben Retro-Tag!), entscheiden wir, einen Spaziergang an der Steilküste zu machen. Ein Freund war als Kind oft hier, in der Ferienwohnung seiner Großeltern. Ihn habe ich sicherheitshalber um Tipps für ein Travemünder Tagespensum gebeten. Steilküste, hieß es, und danach ein eiskaltes Bier an der Theke des Lokals im Maritim-Hotel. Im obersten Stock natürlich.

Auf dem Weg zum bewaldeten, über der Wasserlinie thronenden Weg, der nach Timmendorfer Strand führt, bewundern wir die Bäderarchitektur an der Uferpromenade. Jedes Haus sieht anders aus, einige haben leichte oder schwere Patina. Die meisten aber sind liebevoll restauriert. Dazwischen immer wieder 60er- und 70er-Jahre-FeWo-Bauten; sie bilden einen skurrilen, aber spannenden Kontrast zu den maritimen Schnitzereien und klassizistischen Säulenbögen der Strandvillen. Der vorherrschende Eindruck trotz des unruhigen Stilmixes: Weite und Ruhe. Die Promenade selbst ist breit und schnörkellos, der Strand daneben auch. Am Horizont ein paar Container- oder Kreuzfahrtschiffe, die sich vielleicht später behäbig an unserer Frühstücksbude vorbeischieben werden. Das Maritim Hotel wirft einen monströsen Schlagschatten auf den Sand. Bald geht der gepflasterte Weg in eine Art Heidelandschaft über. Zur Linken ein Golfplatz, aber er stört nicht die Souveränität der Landschaft, wirkt eher beschaulich –ein hügeliges, saftiges Auenland. Hagebuttensträucher und Strandhafer schaffen einen sanften Übergang zum Wald drumherum: Die Steilküste ist von hohen Bäumen bestanden. Auch wenn wir im Stechschritt stapfen und auf halbem Wege umkehren müssen, um den Sonnenuntergang im Panorama-Café nicht zu verpassen, finde ich hier einen neuen Lieblingsort. Waldspaziergang mit Meerblick und Möwengeschrei… Was will man mehr von einem Tag?

Na gut, eine Sache gäbe es schon… Frisch gezapftes Bier vor einem richtig schön kitschigen, pinkfarbenen Himmel! Entschlossen steuern wir wieder aufs Maritim zu. Von außen wirkt es allerdings wirklich nicht besonders einladend. So schnell geben wir aber nicht auf, umrunden den Fuß des Gebäudes und finden neben einer der kleineren Seitentüren ein Messingschild. Dort steht: „Café Über den Wolken“. Durch einen schummrigen Flur geht es zum Fahrstuhl, in dem nur ein einziges Stockwerk mit einem Knopf vertreten ist: Das 35ste. Oben angekommen, sind wir baff. Der Ausblick ist überwältigend. Ob aufs offene Meer, über dem es vom Horizont her bereits dunkel wird, ob auf den immer noch sonnenbeschienen Pril und die kleinen Seen im Hinterland oder die spielzeuggroße Altstadt, in der in diesem Moment die ersten Lichter angehen: Die Rundum-Fensterfront bietet für jeden Geschmack das richtige Postkartenmotiv. Wir entscheiden uns natürlich – unser Timing ist perfekt – für Plätze mit Sicht auf die sinkende Sonne. Als die ihre letzten Strahlen einmal quer durch den Raum wirft, leuchtet alles in blassem Rosa. Mir fällt auf, dass auch die komplette Einrichtung in Pastell gehalten ist – rosa und blau. Genau wie der Himmel draußen! Ob das zum Konzept gehört? Wenn ja: Bravo! Die zur Begrüßung freundlich nickende Bedienung trägt Kännchen vorbei, und wir entscheiden uns daraufhin gegen Bier und für Kaffeeklatsch. Jeweils ein Stück Marzipan-Nuss-Torte und saftigen Käsekuchen später sind wir verliebt. Und wollen hier nie, nie wieder weg! Ob man wohl eine der Suiten dauerhaft mieten kann?

